“Anders ich” oder: Vom Leben im Text Robert Musils Tagebuch-Heft 33
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte - Tập 65 - Trang 152-173 - 2017
Tóm tắt
Musils Tagebücher, von der Forschung als Archiv für Belege und Zitate benützt, werden im folgenden als Text sui generis gelesen, in dem Motiv und Aporie eines Schreibprojekts aufeinandertreffen. Das 33. Tagebuch-Heft, Musils Merkheft für eine nie zustandegekommene Lebensbeschreibung, präsentiert reduzierte Bilder des Ichs, deren Prägnanz zur Ursache für die Unabschließbarkeit des Textes wird. Damit ist ein Repräsentationsverfahren bezeichnet, in dem nicht das Leben des Autobiographen, sondern die autobiographische Arbeit selbst zum Gegenstand der Autobiographic wird. Diese Schreibpraxis zeigt Musils Zugehörigkeit zur Tradition der europäischen Moralistik.
Tài liệu tham khảo
Robert Musil, Tagebücher, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde. (1976).
Vgl. Adolf Frisé, “Vorwort,” Robert Musil, Tagebücher, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde. (1983), I , [V]–XXIV, XVIII (bei dieser Ausgabe, nach der ich zitiere, handelt es sich um einen vervollständigten und korrigierten Neudruck der Edition von 1976)
Philipp Payne, “Robert Musil–s Diaries,” Musil in Focus: Papers from a Centenary Symposium, hrsg. Lothar Huber und John J. White, Publications of the Institute of Germanic Studies, Bd. 28 (1982), S. 131–143, S. 133. Hingegen gibt es Äußerungen von Musil, die belegen, daß er sehr wohl damit rechnete, eines Tages mit seinem Nachlaß die Literaturwissen-schaftler zu beschäftigen: “… später einmal werden sich Literaturhistoriker an meinen Notizen den Kopf zerbrechen” (Robert Musil, Briefe 1901–1942, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde. [1981], I, 1444).
Vgl. Jürgen Becker, “Das Gedicht als Tagebuch,” Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt (1975), 36–41, 37: “Wenn ich Tagebücher lese, bin ich neugierig wie ein Voyeur und mißtrauisch wie ein Kriminalist.”
Rüdiger Görner, Das Tagebuch, Artemis Einführungen, 26 (1986) diskutiert die Frage der Authentizität nur im Hinblick auf die Kriterien von Öffentlichkeit oder Privatheit des Tagebuchs; die prinzipielle Problematik der Selbstbeschreibung wird ausgespart; vgl. S. 12f. Kritisch dagegen Stephan Meyer, “‘… und nichts als die Wahrheit!’: Zum Verhältnis von Tagebuch und Werk am Beispiel des Peter Weiss,” Kunst als Widerstand: Zum Verhaltnis von Erzahlen und asthetischer Reflexion in Peter Weiss– “Die Ästhetik des Widerstands” (1989), S. 130–153, der zu dem Ergebnis kommt, daß “… das Tagebuch nicht per se mehr an dokumentarischer Wahrheit für sich beanspruchen kann als jedes andere literarische Produkt.” Vgl. ebd., S. 153.
Vgl. auch Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher: Eigenart, Formen, Entwicklung (1990), S. 4.
Paul de Man, “Autobiography as De-facement,” Modern Language Notes, 94 (1979), 919–930, 922.
Vgl. etwa Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. Adolf Frisé, 2 Bde. (1981), S. 368, 563, 1842, 1898.
Robert Musil, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hrsg. Adolf Frisé (1955). Frisé veröffentlichte 530 Seiten aus einem etwa doppelt so umfangreichen Bestand an Aufzeichnungen, ließ Lektüreabschriften, wörtlich in den Text des Marines ohne Eigenscbaften übernommene Passagen und Texte, die in den Nachlaß zu Lebzeiten Eingang fanden, weg, aber auch “Notizen, die ausschließlich für den Autor Wert als Erinnerungs-stütze hatten” (S. 10). Der wohl schwerwiegendste Eingriff aber lag in der chronologischen Ordnung von Musils Tagebucheintragungen, die eine Auflösung der zeitlich oft parallel geführten Einzelhefte mit sich brachte. Zu Frisés damaligen Editionsprinzipien vgl. das “Vorwort” zur Ausgabe von 1955, S. [5]–20, S. 10ff.
Ulrich Karthaus, “Robert Musils Tagebücher. Herausgegeben von Adolf Frisé: Vorläufige kritische Würdigung,” Musil-Forum, 2 (1976), 310–314, 313.
Vgl. auch Joseph Strelka, “Reflexionen zu Adolf Frisé–s neuer Ausgabe von Robert Musils Tagebüchern,” Études Germaniques, 33 (1978), 309–315.
Vgl. Payne, “Musil–s Diaries,” S. 133. Nicht ohne Grund greift die Intertextualitätsforschung zur Beschreibung des Intertexts und seiner metonymischen Verfahrensweisen auf eine biologisch-organologische Metaphorik zurück, die der Unabsehbarkeit interner Verzweigungen Rechnung zu tragen scheint. Vgl. Erika Greber, Intertextualität und Interpretierbarkeit des Texts: Zur frühen Prosa Boris Pasternaks (1989), S. 270 f. Auch Musils Tagebuch ist ein Intertext, und das nicht nur, weil Texte anderer Autoren darin Eingang finden, sondern auch, weil es Texte verschiedener chronologischer, thematischer, intentionaler und modaler Provenienz eines Autors versammelt und verbindet.
Vgl. Manfred Jurgensen, Das fiktionale Ich: Untersuchungen zum Tagebuch (1979), S. 7, 32.
Robert Musil empfand die bereits gedruckten Kapitel seines Romans als Belastung und Beeinträchtigung für die Fortsetzung des Romans. “Aber wäre es nur ungedruckt u. noch zu schnuren u. zu beschneiden!” schreibt er im Tagebuch (I, H. 33, 924; Tagebuch-Belege künftig im fortlaufenden Text). Vgl. Wilhelm Bausinger, Studien zu einer historiscb-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman “Der Mann ohne Eigenschaften” (1964), S. 7. Zu denken ist auch an die Weiterbearbeitung der sog. “Druckfahnen-Kapitel” des Mannes ohne Eigenschaften.
Claudio Magris, “Ein grenzenloser Kataster des Fragmentarischen: Musils Tagebücher,” Die andere Welt: Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag, hrsg. Kurt Bartsch u.a. (1979), S. 291–295, S. 293.
Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet…” (Roland Barthes, Die Lust am Text [1984], S. 94).
Vgl. Jacques Derrida, La dissémination (1972). Der Begriff beschreibt “… la multiplicité … d–un événement qui n–est plus un événement puisque sa singularité se dédouble d–entrée de jeu, se multiplie, se divise et se décompte, se dissimulant aussitôt dans un ‘double fond’ inintelligible de non-présence, à l–instant même où il semble se produire, c–est-à-dire se présenter” (S. 323 f.).
Zu Musils Äußerungen über Hitler vgl. Jochen Schmidt, “Robert Musil: Die Genie-Moral eines Marines ohne Eigenschaften,” Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophic und Politik 1750–1945, 2 Bde. (1985), II, 278–298, 294ff.
Zum Verhältnis Robert Musil - Thomas Mann vgl. Karl Corino, Robert Musil - Thomas Mann: Ein Dialog (1971).
Vgl. auch Hans Mayer, “Zwei Städtebewohner: Robert Musil und Thomas Mann. Zur Interpretation ihrer Tagebücher,” Literatur und Kritik, 15 [1980], 579–588, 581 f.: “Daß Musil seinerseits bei seiner allzu berühmt gewordenen Formulierung vom ‘Großschriftsteller,’ der sich vergleichen lasse einem Großindustriellen [Arnheim! mwe] oder Großkaufmann oder Großgrundbesitzer, Musil vergleicht auch mit dem Großkampftag [Hitler! mwe] und dem Großkaufhaus, an den Verfasser des Zauberberg gedacht hat, ist unstreitig.”
Niklas Luhmann, “Die Autopoiesis des Bewußtseins,” Selbsttbematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hrsg. Alois Hahn und Volker Kapp (1987), S. 25–94, S. 27.
Elisabeth Albertsen beschreibt den Mann ohne Eigenschaften als “maßloses Fragment.” Vgl. Elisabeth Albertsen, Ratio und Mystik im Werk Robert Musils (1968), S. 126.
Robert Musil, “Der ‘Untergang’ des Theaters,” Gesammelte Werke, hrsg. Adolf Frise, Bd. II: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik (1978), S. 1116–1131, 1128.
Vgl. dazu Gerhart von Graevenitz, Das Ich am Rande: Zur Topik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe, Konstanzer Universitätsreden, 172 (1989), S. 25 ff.
Vgl. Robert Musil, “Rede zur Rilke-Feier,” Gesammelte Werke, II, 1229–1242, wo Musil seine Überlegungen zu einer Theorie des Gleichnisses entfaltet. Vgl. auch Jörg Kühne, Das Gleichnis: Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman “Der Mann ohne Eigenschaften” Studien zur deutschen Literatur, Bd. 13 (1968)
weniger differenziert Gérard Wicht, “Gott meint die Welt keineswegs wörtlich”: Zum Gleichnisbegriff in Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften,’ Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 792 (1984).
Vgl. Musil, “Rilke-Feier,” S. 1238. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne: Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert (1989), 108ff.
Zur Struktur der Selbstimplikation bes. im Mann ohne Eigenschaften vgl. Reinhard Pietsch, Fragment und Schrift: Selbstimplikative Strukturen bei Robert Musil, Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1082 (1988). Vgl. auch Meyer, “Tagebuch und Werk,” S. 108.
Vgl. de Man, “Autobiography as De-facement,” 922; Paul L. Jay, “Being in the Text: Autobiography and the Problem of the Subject,” Modern Language Notes, 97 (1982), 1045–1063, 1046.
Vgl. Philip Payne, “Robert Musil, von innen gesehen: Betrachtungen zu den Tagebüchern,” Musil-Forum, 6 (1980 [1982]), 227–238, 235.
Vgl. Marie-Louise Roth, “Robert Musil als Aphoristiker,” Beiträge zur Musil-Kritik, hrsg. Gudrun Brokoph Mauch (1983), S. 289–320.
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Schriften und Briefe, hrsg. Franz H. Mautner, 4 Bde. (1983), I, 63–526, 221 (E 46).
Vgl. Helmut Pfotenhauer, “Sich selber schreiben: Lichtenbergs fragmentarisches Ich,” Jahrbuch der deutschen Scbillergesellschaft, 32 (1988), 77–93
Manfred Schneider, “Lichtenbergs ungeschriebene Autobiographic: Eine Interpretation,” Fugen: Deutsch-französisches Jahrbuch für Text-Analytik, 1 (1980), 114–124.